Inklusion als konsequente Umsetzung der ‚Blick über den Zaun’-Standards
Mit der Verabschiedung der UN-Konvention für die Rechte von Behinderten hat eine bildungspolitische und pädagogische Entwicklung nun auch in Deutschland an Fahrt gewonnen, die unumkehrbar ist.
Jede Schule steht – kurz- oder mittelfristig – vor der Herausforderung, sich zu einer inklusive Schule weiter zu entwickeln, auch wenn in einigen Bundesländern die Weichen dafür noch gar nicht gestellt sind.
Dabei greift zu kurz, wer die inklusive Schule als eine sieht, die ‚behinderte‘ oder benachteiligte Kinder aufnimmt und ‚integriert‘. Eine inklusive Schule ist vielmehr eine Schule, die sich zum Ziel setzt, jedes Kind aufzunehmen, in seiner persönlichen und in seiner Lernentwicklung zu unterstützen und zu begleiten. Statt Schülerinnen und Schüler vorrangig als Mitglieder einer Gruppe (z. B. Mädchen und Jungen, mit Migrationshintergrund, hochbegabt, behindert, verhaltensauffällig) zu sehen und zu behandeln, stellt sich Schule darauf ein, die Vielfalt aller Schülerinnen und Schüler und ihre jeweiligen Besonderheiten zur Grundlage ihrer pädagogischen Arbeit und ihrer Unterrichtskonzeptionen zu machen.
Damit wird deutlich, dass eine gesellschaftliche Umorientierung und eine pädagogische Schärfung notwendig sind. Die Grundüberzeugungen des ‚Blick über den Zaun’ – die Notwendigkeit, den Einzelnen gerecht zu werden und deshalb auf ein ‚anderes Lernen’ zurückzugreifen und Schule als demokratische und lernende Institution zu verstehen – müssen noch schärfer konturiert werden, um mit der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler produktiv umgehen zu können.
Mit ihren Standards haben die Schulen des Schulverbunds ‚Blick über den Zaun’ eine wichtige Grundlage geschaffen, sich der herausfordernden Aufgabe zu stellen, kein Kind zurückzulassen, es nicht an eine ‚besondere‘ Schule abzuschulen oder innerhalb der Schule in ‚besonderen‘ Gruppen zu unterrichten.
Aus Sicht der ‚Blick über den Zaun’-Schulen ist entscheidend für das Gelingen einer inklusive Schulentwicklung die Bereitschaft und Offenheit aller Beteiligten, Ziele zu definieren und Wege zu suchen. Dabei ist die Bereitstellung zusätzlicher, notwendiger Ressourcen in entsprechenden Strukturen unabdingbar.
Zum Gelingen einer inklusiven Schulentwicklung gehören die leitenden Zielvorstellungen,
- dass ein Kind die ihm entsprechende Unterstützung nach seinen je persönlichen Bedarfen und nicht erst nach der Erhebung einer Statusdiagnose erhält;
- dass Kinder und Jugendliche nicht entweder „zieldifferent“ oder „zielgleich“ zu unterrichten sind, sondern dass individualisierende und gemeinsame Unterrichtsangebote für alle Kinder und Jugendlichen bereit gestellt werden;
- dass ein Leistungsrückmeldesystem benötigt wird, das die Lernentwicklung jedes Kindes stärkenorientiert darstellen kann;
- dass jedem Kind und Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden muss, die Schule und die Schulumgebung mitzugestalten;
- dass jedes Kind an Festen, Feiern und besonderen Ereignissen der Schule teilnehmen kann;
- dass eine Politik notwendig ist, die die Teilhabe aller Menschen am allgemeinen Leben und deshalb auch die inklusive Schule als unverzichtbares Menschenrecht betrachtet und entsprechend handelt.
Weitere Bedingungen für gelingende inklusive Schulen sind vorhandene Ressourcen und deren planvoller und flexibler Einsatz je nach Bedarf der Schule, insbesondere der sie besuchenden Schülerinnen und Schüler.
Dazu gehören Ressourcen für
- ein multiprofessionelles PädagogInnenteam mit LehrerInnen, SonderpädagogInnen, SozialpädagogInnen und ErzieherInnen und möglichst auch Menschen anderer Professionen
- mit pädagogischen Kompetenzen (TischlerInnen, SchauspielerInnen, KünstlerInnen etc., aber auch TherapeutInnen unterschiedlicher Fachrichtungen);
- eine materielle und räumliche Ausstattung, die ausgerichtet ist an den Lebensbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler – z. B. geräumige Unterrichtsbereiche, Lärmschutz, Therapieräume, Forscherwerkstätten, gesundes Raumklima, Kreativbereiche etc. und am Ende auch Barrierefreiheit
- den Vorrang kindbezogener vor problemorientierter Förderung.
Eine inklusive Schule braucht schließlich organisatorische Strukturen, um die in ihr arbeitenden Menschen nicht dauerhaft zu überfordern.
Dazu gehören
- in großen Schulen kleinere (Teil-)Systeme (etwa Klassenhäuser, Jahrgangsteams etc.), die verbindlich zusammen arbeiten und für PädagogInnen, Kinder und Jugendliche Zugehörigkeiten schaffen;
- dazu passende verbindliche Teamstrukturen mit in die Arbeitszeit integrierten Teamzeiten, mit gleichrangig beschäftigten pädagogischen MitarbeiterInnen, mit eigenen Teamräume sowie materiellen und planerischen Freiräumen;
- dazu passende räumliche Anordnungen der Unterrichtsbereiche, z. B. durch Clusterbildung;
- das längere gemeinsame Lernen, weil Inklusion besser gelingt, wenn unnötige Schulwechsel vermieden werden können;
- Formen der Leistungsbewertung und -rückmeldung, die die Ziffernnoten ersetzen oder diese zumindest ergänzen;
- niederschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche, Eltern und PädagogInnen innerhalb und außerhalb der Schule;
- eine Anlaufstelle für Krisensituationen;
- Auszeitangebote für SchülerInnen, aber auch für PädagogInnen;
- gemeinsam und verbindlich verabredete und praktizierte Schulregeln.
Die im ‚Blick über den Zaun’ zusammen geschlossenen Schulen werden sich auf der Grundlage ihrer Standards der Aufgabe stellen, sich zu inklusiven Schulen weiter zu entwickeln.
PDF: Inklusion als konsequente Umsetzung der ‚Blick über den Zaun’-Standards